Tag 6 – Saltburn-by-the Sea nach Whitby (31 Kilometer)

Mitten in der Nacht erfahre ich, dass meine englische Familie spontan eine Ferienwohnung in Whitby gebucht hat und mich dort ab sofort zu einem kurzen Erholungsurlaub erwartet. Auch mein Engländer wird dort in zwei Tagen eintreffen. In die berühmte Küstenstadt mit der alles überragenden Abteiruine, in der einst die Schiffe für James Cooks Entdeckungsfahrten gebaut wurden und in dessen Hafen Graf Dracula anlegte, zieht es mich mit geballter Wucht. Doch reichen meine Kraftreserven tatsächlich für eine 20-Meilen-Wanderung? Bisher hatte ich ja eher kleinere Abschnitte eingeplant. Doch die Aussicht auf herzliche Gesellschaft und ein wenig Sightseeing im luftigen Sommerdress, lassen mich waghalsig werden. Mir ist klar, dass jede Strecke über 25 Kilometer meist in qualvollen Schmerzen und bitterbösen Flüchen endet, aber egal, ich versuch’s.

Meinen Rucksack packe ich erstmal komplett neu, werfe angebissene Müsliriegel, verschmähte Terrinen und unbenutzte Kosmetikartikel in den Müll. Mein Zelt habe ich in der Nacht gut durchgetrocknet. Alles wiegt nur noch halb so schwer. Außerdem habe ich mir zur Stärkung noch ein ordentliches englisches Frühstück bestellt. Der rührige Koch, ein kahlköpfiger Hüne von einem Briten, bringt mir persönlich Bohnen, Toast, Speck, Rührei und Tomaten an den Tisch. Dazu kippe ich mir eine ganze Kanne Kaffee hinter die Binde. Und auf geht’s! Da fällt mir schlagartig ein, dass ich doch gestern glatt vergessen habe, mir im Tourismusbüro meinen nächsten Stempel für den Cleveland Way Pass abzuholen. Verdammt! Also schlendere ich nochmal zur Bibliothek zurück und stelle fest, dass die erst in einer halben Stunde öffnet. Bei meinem straffen Tagesprogramm kann ich mir eine solche Zeitverschwendung eigentlich gar nicht leisten, aber ich entscheide mich trotzdem, geduldig vor dem Gebäude zu verharren und hole mir um 9.30 Uhr meinen Stempel ab.

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Der Cleveland Way auf Hunt Cliff.

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Auf steilen Steintreppen windet sich der Cleveland Way aus Saltburn heraus hinauf auf Hunt Cliff und folgt dann den ganzen Tag als schmaler Pfad dem Verlauf der Küste. Immer wieder weisen Warnschilder darauf hin, sich nicht zu weit an den Abgrund zu wagen. Die Ostküste Yorkshires ist stark von Erosion betroffen. Jedes Jahr fallen mehrere Meter Land ins Meer, daher muss der Cleveland Way an vielen Stellen immer weiter ins Landesinnere verlegt werden. Spätestens, wenn der Drang der Natur stärker wird, muss man sich entscheiden: Hockt man sich links ins Gebüsch am Rand des Kliffs kann man seine Geschäfte zwar im verborgenen abwickeln, aber es kann durchaus passieren, dass der Boden unter einem zerbröselt und man ungebremst in die Tiefe stürzt. Bei wem die Schamgrenze nicht so hoch liegt, der hat auf der rechten Seite mehr Bodenhaftung auf flachem Farmland und in Getreidefeldern.

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Hummersea Bank.

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Auf dem  Meer schippern Cargofrachter, Segelboote  und winzige Fischerkutter umher. Über mir ziehen Möwen kreischend ihre Kreise an einem makellos blauen Sommerhimmel. Vor mir erstreckt sich die Küste in einem endlosen Bogen aus glitzernden Sandbuchten und steinernen Landzungen, die man hier „nabs“ nennt. Dazwischen steige ich mehrmals hinab von den Kliffen in idyllische Fischerdörfchen mit windschiefen Häuschen und engen Gassen, die so versteckt liegen, dass es scheint, als wäre die Zeit hier vor Jahrhunderten. stehengeblieben. Immer wieder überkommt mich das Gefühl, ich wäre irgendwo am Mittelmeer und nicht an der rauen Nordsee, die heute so friedlich unter mir an ihre Ufer plätschert.

Um die Mittagszeit erreiche ich das Küstendorf Staithes und kann nicht glauben, was ich hier vorfinde: In meinem ganzen Leben habe ich keinen vergleichbaren Ort an irgendeiner Küste gesehen, der einen so überwältigenden Zauber ausübt. Meine Güte, ich laufe mit offenem Mund durch Staithes und traue meinen Augen nicht. Von hohen Kliffen eingerahmt, in denen seltene Seevögel nisten und die randvoll ist mit Fossilien, durchzogen von steilen Pflastersteingassen und farbenfrohen Cottages, ist dieses Fischerdörfchen ein Augenschmaus, das seinesgleichen sucht. Auf der Stelle verliebe ich mich in den Ort, in dem James Cook  einst als junger Lehrling seine Liebe zum Meer entdeckte. In dieser Kulisse wundert es mich nicht, dass sich hier Ende des 19. Jahrhunderts eine ganze Künstlerkolonie ansiedelte, die so genannte Staithes Group. Ich ärgere mich jetzt maßlos, dass ich keine Kamera dabeihabe, oder vielmehr selbst nicht gut genug zeichnen kann, um mal eben diesen Geheimtipp in all seiner Herrlichkeit zu porträtieren.

Hauptberuflich werfen heutzutage zwar nur noch wenige Fischer ihre Netze aus, dafür ist Staithes jetzt meist von Touristen überlaufen. Ich stelle fest, dass in den Küstenstädten kaum noch Einheimische wohnen. Die meisten Häuser werden als Ferienwohnungen vermietet. Auch ich schnappe mir eine Holiday-Cottage-Broschüre und überlege, ob ich mich vielleicht eines Tages mit Schreibblock und Stiften hier einmiete.

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Das wohl romantischste Fischerdörfchen der Welt: Staithes.

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Für heute aber muss ich weiter, obwohl es mir ziemlich schwerfällt, mich jetzt schon von Staithes zu trennen, das sich so nachhaltig in mein Herz gebrannt hat.

Als ich nach Runswick Bay gelange, einem weiteren hübschen Küstenstädtchen mit einer breiten Sandbucht und weißen Häuschen mit roten Ziegeldächern, ist die Flut gerade im Anmarsch. Ich muss mich beeilen, um nicht von den herannahenden Wellen verschluckt zu werden, denn der Cleveland Way führt hier am Strand entlang und dann durch eine enge Schlucht steil wieder aufs Kliff hinauf.

Obwohl ich ganz schön klettern muss, bin ich auch am späten Nachmittag noch recht fit, doch das ändert sich schlagartig, als ich Sandsend erreiche, einen Vorort von Whitby. Jetzt bin ich nur noch wenige Meilen von meinem Ziel entfernt, aber meine Füße machen schlapp. Ein berstender Schmerz fährt durch meine Glieder und ich zittere am ganzen Leib. Auf der nächstbesten Bank sacke ich völlig ausgelaugt in mir zusammen und kann keinen Schritt mehr gehen. Über mir braut sich ein Unwetter zusammen. Dunkle Wolken ziehen heran und es tröpfelt immer stärker auf mich herab. Ich muss jetzt alle meine Reserven zusammenziehen und mich brachial zusammenreißen. Meine Sohlen brennen wie Feuer und mir fällt nur ein Lied ein, um mich abzulenken. Keuchend trällere ich die englische Nationalhymne vor mich hin, texte hier und da eine Strophe hinzu.

Im Ortskern erblicke ich  in der Ferne eine bekannte Gestalt, die lächelnd auf mich zugeschlendert kommt. Mein englischer Papa ist mir von Whitby entgegengeeilt. Zusammen bewältigen wir die letzten Kilometer und ich genieße die heilsame Gesellschaft. Doch aus dem anfänglichen: „Ist nicht mehr weit“, des munter auf mich einplappernden Briten, wird nochmal ein fast zweistündiger Marsch durch menschenüberströmte Gassen bis zur Ferienwohnung. Die liegt direkt am Fuß der 199 Stufen, die zur Abtei hinaufführen. Sehnsüchtig blicke ich hinauf. Wie gerne würde ich jetzt schon alles erkunden, aber mein Körper boykottiert meinen bescheidenen Wunsch. Jetzt ist erstmal Familienzeit: Die Mutter meines Engländers eilt mir aus dem Inneren des Hauses entgegen, nimmt mich fest in den Arm und versorgt mich mit allem Nötigen. Ich bin am Ende meiner Kräfte und dennoch unendlich glücklich, hier zu sein.

4 Gedanken zu “Tag 6 – Saltburn-by-the Sea nach Whitby (31 Kilometer)

  1. Mensch – das ist ja ein richtiger Krimi geworden, deine Wanderung! Jetzt bin ich gespannt, ob du am Ende doch noch die 199 Stufen hoch zum Friedhof in Angriff nimmst …
    Und was James Cook bzw. dessen Elternhaus angeht – das haben wir letztes Jahr in Melbourne tatsächlich gesehen, in den Fitzroy Gardens https://fernwehheilen.wordpress.com/2015/01/22/22-januar-melbourne-summer-in-the-city/ (ziemlich am Ende des Beitrags ist ein Foto!)

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    • Haha, sehr lustig, dass du das so siehst! Na mal sehen, ob ich mich da hochquälen werde ;). Ah, du hast das Elternhaus tatsächlich live gesehen. Schon eine verrückte Idee, ein ganzes Haus abzutransportieren und auf einen anderen Kontinent zu verschiffen. Da sollte der Cleveland Way wohl bis Melbourne verlängert werden. Den Umweg hätte ich dann auch noch in Kauf genommen 😉

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